Altes Gymnasium Bremen

Ein Abweichler und Individualist sucht sein Glück in Amerika

Auch Velten Andres, der Andere, Abenteurer, Individualist eben, erregt beim Lesen immer wieder Interesse, " wobei mich Raabes etwas simple Technik der amensgebung seiner Figuren nie wirklich stört: Velten Andres handelt als der unbedingte Abweichler, als bedingungsloser Individualist und muss als solcher " folgerichtig im Geist Wilhelminischer Anständigkeit " vereinsamt im fernen Amerika scheitern. Karl Krummhardt schließlich, der krumme, gebeugte Anpasser und verdiente Bürger, der sich mit seinem eigenen Leben auseinandersetzt und " vorsichtig, aber doch stetig " auf Sinnsuche geht, dabei aber die Zügel immer wieder strafft, wenn er sich zu weit von Weib und Kind entfernt glaubt. Tief sitzt Velten Andres dem seltsamen Protokollführer Karl Krummhardt im Genick, beispielsweise dort, wo Velten Andres unmittelbar vor seinem Auszug aus dem Vogelsang alles verbrennt, was sich in seinen Gedanken an nachbarschaftlichen Duseleien festgesetzt hat. Alle sind dazu eingeladen wie zu einem königlichen Festmahl im Evangelium oder "wie zur Plünderung eines abgerupften Weihnachtsbaumes". Das alles liest sich immer wieder kalt und ohne Gefühl, verrät aber zugleich Willenskraft, den Willen nach Bewegung, Veränderung, Sehnsucht nach einem erfüllten Leben. Stillstand ist für den eigentumsmüden Velten Andres nicht angesagt, und so ist ihm die Kritik seiner lieben Mitmenschen sicher. Diese wehren sich gegen den Kahlschlag von Gefühlen, Hoffnungen und Wohlbefinden. Dass der wunderliche Aktenführer Karl Krummhardt nicht müde wird, die Reaktionen seiner lieben Frau als fest im Glauben an das Wahre, Gute und Schöne im Dasein redlicher Bürgerlichkeit zu lobpreisen und regelrecht zu überhöhen, führt beim Leser zum Eindruck heimlicher Ironie. Aber: Karl Krummhardt kippt nicht um, er wehrt sich " wenn auch immer wieder vergeblich " gegen den Unruhestifter Velten Andres. Noch ist der friedliche Alltag am Vogelsang nicht wirklich aus den Fugen geraten. Was mich bis heute anspricht, ist die pointiert-humorige Aufbereitung dieses Romanes mit Versatzstücken aus Bibel, Dichtung und Akten-Bürokratie, natürlich auch das Spielen mit den Zeitebenen, fast schon wie im Dr. Faustus von Thomas Mann.

Friedhelm Dreimann (Weser-Kurier) ... 28.03.2010

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