Altes Gymnasium Bremen

Beruf: Artistin - staatlich geprüft

Wer die große dunkelhaarige Bremerin trifft, ahnt nicht gleich auf Anhieb etwas von ihrem ungewöhnlichen Beruf. Sportlich sieht sie aus, sehr schlank, nun gut. Die Begrüßung aber offenbart, dass Mareike Koch mit ihren Händen arbeitet. Ganz hart sind deren Innenseiten vom vielen Training an der Trapezstange, eingefärbt vom flüssigen Magnesium, das die Künstlerin für Proben und Auftritte benutzt, um nicht vom glatten Holz abzurutschen.
"Aber die Hände werden ganz schnell wieder weich, wenn ich nicht an der Stange hänge", erzählt Mareike Koch mit einem Lachen. Einmal, erinnert sie sich, fiel sie beim Proben aus großer Höhe herunter und brach sich den Arm. Drei Monate durfte sie nicht am Trapez hängen. Damals bildete sich die Hornhaut zurück. Die Angst glücklicherweise auch. Aber: "Man hat hinterher mehr Respekt", sagt sie. Konzentration sei wichtig da oben. Ohnehin würden die meisten Unfälle bei jenen Tricks passieren, die man glaubt, draufzuhaben. "Dann ist man unachtsam." Dass Mareike Koch nach dem Erwerb des Abiturs in Bremen an die Artistenschule in Berlin ging, schien damals weder ihrer Familie noch den engen Freunden abwegig. Immerhin hatte die junge Frau, die in Findorff und der Bremer Neustadt aufwuchs, schon jahrelang beim Kinder- und Jugendzirkus Akrobatik, Trapezkunst und Seillauf gemacht. "Das Trapez war immer mein Lieblingsrequisit. Ich konnte stundenlang darauf sitzen", erinnert sich Mareike Koch.
Als sie von der Ausbildung an der staatlichen Schule am Prenzlauer Berg in Berlin erfuhr, bewarb sich die Bremerin prompt. Und sie wurde umgehend genommen. Der Quereinstieg bedeutete allerdings: Nochmal in der elften Klasse beginnen; nicht nur mit den neuen Fächern Anatomie, Geschichte der Artistik, Ballett und Praxis am Trapez, sondern auch mit dem schon bekannten Stoff in Deutsch, Englisch und Mathematik. Aber Mareike Koch machte mit. Damals waren nur etwa zehn Schüler in ihrem Jahrgang. Inzwischen seien die Klassen größer. "Die Schule ist ziemlich groß, weil sie mit der Ballettschule zusammengehört", sagt die Artistin.
Mit 21 Jahren schloss sie die Ausbildung ab. Es gab eine öffentlich zugängliche Prüfung und eine Gala, zu der Veranstalter und Agenturen eingeladen wurden. So bekamen die jungen Künstler Kontakt zu jenen, die ihnen künftig die Auftrittsmöglichkeiten vermitteln sollten. "Es kommt natürlich vor, dass man irgendwo gesehen und dann engagiert wird. Aber man muss auch selbst viel tun", hat Mareike Koch in den vergangenen drei Jahren festgestellt. Eine eigene Homepage im Internet ist ein Muss in ihrer Branche. Das gilt auch für Videos, Fotos und weiteres Informationsmaterial zu ihrer Person und ihren Shownummern. Auch am Vertikaltuch arbeitet sie gelegentlich.
Die Artistik hat die gebürtige Bremerin, die nach der Ausbildung in Berlin ihre Wohnung behalten hat, in viele Städte Deutschlands, nach Hannover, Stuttgart, Münster oder München, aber auch nach Oslo, Edinburgh, Simbabwe, Dubai, in die Schweiz und nach Rumänien geführt. "Man sieht schon viel von der Welt, auch Ecken, in die man sonst nie gekommen wäre", meint Mareike Koch. Doch das stand bei der Berufswahl nicht im Vordergrund, sagt sie. Ohnehin ist ihr erst im letzten Jahr der Ausbildung klar geworden, "dass ich das wirklich weitermachen will". So vermarktet die 24-Jährige also ihr Ein-Frau-Unternehmen. "Das hat Vor- und Nachteile, aber das ist ja in jedem Beruf so", sagt sie schlicht. Wenn sie, wie derzeit im "Palais im Park", zu ausgesuchter Musik über dem Publikum schwingt, einen atemberaubenden Abfaller vorführt oder hängend mit offenen Haaren ganz knapp über dem Boden fegt, weiß Mareike Koch, warum sie sich für das Trapez entschieden hat. "Ich mag das, wenn die Leute ganz nahe sind." Die Mischung aus spektakulären Tricks und berührender Stimmung sei für die Darbietung am sogenannten Tanztrapez wichtig. Die Nummer hat die Künstlerin selbst entwickelt.
Im "Palais im Park" genießt sie die Nähe zur Familie, mit der sie viel Zeit verbringt und natürlich auch Weihnachten gefeiert hat. "Und das Wohnen im Hotel ist natürlich ein echter Luxus", sagt sie. Wer lebt schon über Wochen im Fünf-Sterne-Haus, lässt sich beim Frühstück verwöhnen und hat den verschneiten Bürgerpark direkt vor der Haustür? In die Sauna allerdings ist die Trapezkünstlerin bislang noch nicht gegangen. Mit Bedacht. "Das macht zu müde. Dann wird man unkonzentriert", meint sie. So hebt sie sich die Wellness-Stunden für die paar spielfreien Tage auf. Stattdessen hält sie sich mit täglichem Training und Aufwärmübungen am Abend fit. Zwischendurch geht sie Kaffeetrinken mit Freunden und ist begeisterte Fußball-Zuschauerin, auch im Stadion, wenn Werder spielt.
Ein anderer Beruf? "Den muss ich mir irgendwann vorstellen können", sagt die Artistin nüchtern. Vielleicht im organisatorischen Bereich, hinter den Kulissen jener Bühnen, auf denen sie die nächsten Jahre noch zu sehen sein will. Aber sie kennt sich selbst am besten: "Ich gehöre nicht zu denen, die so lange weitermachen, bis es gar nicht mehr geht."

Frauke Fischer (Weser-Kurier) ... 31.12.2010

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